Heute möchte ich gerne eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte, die mich nachdenklich gemacht und auf seltsame Weise berührt hat. Sie wurde mir vor kurzem in einer Bar erzählt, bei Whiskey und Akkustik-Gitarren. Den Mann, von dem diese Geschichte handelt, nenne ich hier jetzt einfach mal Stefan.
Stefan war mit seiner Frau zur Hölzernen Hochzeit seines Bruders eingeladen, musste allerdings allein dort auftauchen, weil seine Frau an diesem Wochenende beruflich verhindert war. Das war zwar schade aber in ihrer knapp dreijährigen Ehe nicht das erste Mal. Sie haben sich mit der Zeit beide mit ihrem durchaus anstrengenden Job arrangiert und gemeinsame Stunden ließen sie trotzdem nicht zu kurz kommen. Ohnehin sind die beiden ein regelrechtes Vorzeigepaar und ehrlich glücklich.
Stefan ging also allein zur Feier seines Bruders, konnte sich aber trotzdem einigermaßen in Partystimmung bringen. Allein seinen Bruder und dessen Ehefrau in ihrer ansteckenden Harmonie zu beobachten, sorgte meist schon für allumfassende gute Laune. Allerdings fiel Stefan an diesem Abend noch eine weitere Person sehr früh auf. Es war eine Frau mit langen braunen Haaren in einem blauen Kleid. Wie er von seinem Bruder erfuhr, war sie eine Arbeitskollegin von ihm und ebenfalls ohne den verhinderten Partner aufgeschlagen. Beim Betreten des Raumes hätte er schwören können, dass sie ihn durch all die Menschen hindurch direkt ansah und anlächelte.
Im Laufe des Abends kamen Stefan und die hübsche Frau im blauen Kleid, ihr Name war Lina, an der Bar kurzzeitig ins Gespräch. Er erzählt, dass es sich dabei eigentlich bloß um belanglosen Smalltalk gehandelt, er aber das merkwürdige Gefühl gehabt habe, dass sie in kaum erklärbarer Weise auf genau derselben Wellenlänge gewesen seien. Er glaubte, zu spüren, dass sie genau wusste, was er sagen wollte, noch bevor er einen Satz beendet hatte. Und umgekehrt genauso. Das Nachvollziehen fiel mir ebenso schwer wie ihm das Erklären, schließlich geht es bei besagtem Gespräch um eine Zeitspanne von höchstens fünf Minuten. Aber die Geschichte ging ja noch weiter.
Lina hatte sich dann bald wieder in die Gruppe der Arbeitskollegen gesellt und Stefan wusste nicht so recht wohin mit seiner Verwunderung. Er war nicht auf Flirten oder Derartiges aus aber er verspürte eine gewisse Neugier. Und so ergab es sich später beim kleinen Mitternachtsbuffet, dass sie beide an einem kleinen Stehtisch wieder beieinander standen. Ohne Umschweife wurde dort angeknüpft, wo der Smalltalk geendet hatte und zum tiefgründigen Gespräch hätte werden müssen. Und plötzlich fand er sich mitten in einer philosophischen Annäherung an das Leben selbst wieder. Es ging um Ziele, Träume, Freundschaft und Verluste. Sie kamen von einem Thema zum nächsten und das Gefühl aus den ersten fünf Minuten verstärkte sich kontinuierlich. Es gab immer wieder kurze Momente, in denen beide mitten im Satz lächelten und genau wussten, warum. Die Wellenlänge war zweifellos dieselbe.
Ein Thema blieb dagegen unberührt: die Liebe. Ein ums andere Mal wäre ein Wechsel hin zu diesem Thema nur folgerichtig gewesen. Aber es blieb unausgesprochen. Die meisten Leser werden sich nun genau wie ich, als ich diese Geschichte zum ersten Mal hörte, gelangweilt abwenden wollen, weil sie genau zu wissen glauben, wohin sie führen wird. Aber ich bitte Sie, tun Sie es nicht. Denn Stefan gab mir überzeugend zu verstehen, dass er und Lina in diesem verzückenden Gespräch keinesfalls auf das Eine aus gewesen seien. Sie wären nicht einmal nah dran gewesen und es wäre auch vergeudete Zeit gewesen, sagt er. So viel hätten sie zu besprechen gehabt. Dass die beidseitige Begeisterung über die Gemeinsamkeiten ein warmes Gefühl in ihm auslöste, bestreitet er indes nicht.
Das Gespräch dauerte bis zum Ende der Party an und sie waren selbst erschrocken, wie spät es mittlerweile geworden war. Als das Licht anging, flackerte in ihren Gesichtern eine kleine Enttäuschung auf. Als sich die letzten noch verbliebenen Gäste verabschiedeten und in Richtung Parkplatz begaben, hatte sein Bruder bereits ein Taxi für sich, seine Frau und Stefan organisiert. Als er seinen kleinen Bruder zu sich rief, warf Stefan noch einen suchenden Blick über den schwach beleuchteten Parkplatz. Er traf einen ähnlichen Blick und ging noch einmal zu Lina, um sich zu verabschieden. „Komm gut nach Hause“, sprach er ihr bei der Umarmung ins Ohr. Sie drückte ihm einen sanften Kuss auf die rechte Wange, der zu lang war, um ihn flüchtig zu nennen, und antwortete: „Mach’s gut“. Dann blickte sie ihm noch einige Sekunden in die Augen und ging.
„Das war’s“, beendete Stefan seine Erzählung vor mir. Jetzt war ich selbst auch ein wenig enttäuscht. Etwas aufregender hatte ich mir die Pointe ja schon ausgemalt. „Ich schwöre dir, diese drei Sekunden, die wir uns in die Augen sahen, bevor sie ging, waren was Besonderes. Es war, als wollte sie sagen ‚Vielleicht in einem anderen Leben‘ und mit einem letzten Lächeln haben wir im Prinzip bestätigt, dass wir auch hier wieder genau dasselbe dachten.“
Auf meine Frage, ob er Lina seitdem noch einmal gesehen oder gesprochen habe, schüttelte er ohne Bedauern den Kopf. „Am nächsten Tag bin ich nach dem Frühstück bei meinem Bruder ins Auto gestiegen und nach Hause zu meiner Frau gefahren. Das ist alles.“ An seiner Ehe hätte dieser Abend nichts geändert, sagt er.
Auch, wenn ich daran zunächst meine Zweifel hatte, glaubte ich Stefan am Ende des Abends doch. Ein wenig länger brauchte ich dagegen für die Beantwortung der Frage, was denn nun die Lehre aus dieser Geschichte sein könnte. Stefan war ganz offensichtlich zu dem Schluss gekommen, solche Momente zum Einen zuzulassen und in Ehren zu halten, sie aber zum Anderen als genau das zu betrachten, was sie waren: kurze Momente.
Man mag einerseits behaupten, dass Stefan an diesem Abend sehr intime Stunden mit einer Frau verbrachte, die nicht seine Ehefrau war, indem sie über zutiefst emotionale Dinge aus ihrem Inneren sprachen. Diese Stunden riefen auch durchaus etwas in ihm hervor und allein die Tatsache, dass er diese Geschichte in sogar noch umfangreicherer Form einem Freund erzählt, beweist ja, dass sie alles andere als belanglos für ihn gewesen war. Man kann das so sehen und die Grenzen zur Untreue verlaufen in verschiedenen Köpfen ja auch auf extrem unterschiedliche Weise.
Ich habe mich allerdings dafür entschieden, es anders zu bewerten und gebe damit vermutlich auch Stefans Sicht der Dinge in etwa wieder. Ich glaube, so lange es Männer und Frauen gibt, werden sie immer Momente miteinander erleben, in denen sie sich plötzlich wie auf magische Weise voneinander angezogen fühlen. Selbst die vorbildlichste Beziehung der Welt als Grundlage kann so etwas nicht verhindern und meiner Meinung nach wäre es sogar gefährlich, dies für sich als Anspruch zu formulieren. Die Krux liegt denke ich in der Bewertung und Einordnung solcher Momente. Dort offenbart sich nämlich der wahre Charaktertest für die Beteiligten.