Ich war vor kurzem mit meiner Arbeitskollegin Jana zur Mittagspause in so einem pseudorustikalen, alternativ-schicken Café, das für einen „Insidertipp“ immer erschreckend überfüllt ist. Es ist eins von diesen Cafés, die auch mir grundsätzlich gut gefallen würden (meinen latenten Hang zum Hipstertum hatte ich ja schon einmal erwähnt), wenn es nicht schon wieder so mainstream wäre. Naja, irgendwie waren wir auf jeden Fall dort gelandet.
In diesem Laden jedenfalls nimmt eine Angestellte die Bestellungen entgegen und eine zweite bereitet sie zwei Meter weiter zu und brüllt anschließend durch den Raum, welche gerade zur Abholung bereitsteht. Kurz nachdem ich nun für uns beide bestellt und Jana uns bereits einen Tisch gesichert hatte, schreit besagte zweite Angestellte durch den Laden: „Eine entkoffeinierte, lactosefreie Sojamilch-Latte?“ Jana und ich schauen uns kurz an und haben Mühe, uns das Lachen zu verkneifen. Ein leises „Hiiipsteeer“ tönt durch den Raum.
Bei allem Spott: Ich bin kein Kaffee-Fan und Vegetarier mit offener Bewunderung für Veganer – das Getränk hätte genauso gut für mich sein können. Aber es passte einfach so schön ins Bild, in dem gleichzeitig ein vollbärtiger Endzwanziger mit Baskenmütze am rustikalen Holztresen auf seinem iPhone herumtippte.
Und damit bin ich auch schon beim Thema, nämlich bei den guten alten Vorurteilen. Wobei das härter klingt, als es gemeint ist. Jemanden – ob gerechtfertigt oder fälschlich – als Hipster zu bezeichnen, wird vermutlich die wenigsten ernsthaft kränken (außer mich selbst, weil es ab und zu stimmt, aber das ist ein anderes Thema). Ich nenne es mal Schubladendenken. Toleranz hin oder her, so ganz freisprechen können wir uns davon wohl alle nicht. Wir praktizieren es höchstens auf unterschiedliche Weise.
Jana zum Beispiel gibt offen zu, dass in ihrer Kommode bisher noch jeder einen Platz gefunden habe. „Es ist so schön einfach“, gibt sie dann (zum Glück) mit subtiler Selbstironie zu. Ich meine dagegen jedes Mal, mich schlecht fühlen zu müssen, wenn es mir bei mir selbst auffällt, erwische mich aber trotzdem nicht seltener dabei. Denn sie hat völlig Recht: Es ist einfach. Da ist die edle Selbstreflexion am Ende auch nichts wert.
Als mahnendes Beispiel kann Jana jedoch in Personalunion auch gleich herhalten. Als ich ihr nämlich zum ersten Mal begegnet bin, hatte ich schnell ein vorgefertigtes Bild von ihr, mit dem ihre wahre Persönlichkeit gar nicht so viel gemeinsam hat. Von ihrem ersten Tag im Büro an trat sie sehr selbstbewusst auf, hat sich nicht versteckt und Verantwortung übernommen. Ich habe ihr dann mal erzählt, dass ich das Gefühl hätte, dass sie bloß gerne trommeln würde – viel Wind um nichts. Nachdem sie zuerst fast vom Stuhl gefallen wäre, konnte sie mich recht bald vom Gegenteil überzeugen. Bis heute bin ich froh, dass ich ihr damals diesen Quatsch aufgetischt habe, damit sie ihn mir austreiben konnte.
Und so erlebe ich es immer wieder, dass ich mir einbilde, mit meinen weisen (fast) 30 Jahren bereits eine umfassende Menschenkenntnis zu besitzen, und letztlich total daneben liege. Ich will dabei auch gar nicht zu politisch werden und das große Fass mit Namen Intoleranz aufmachen. Mir geht es vielmehr um die vielen interessanten Begegnungen, die mir vielleicht dadurch verwehrt geblieben sind, dass ich mich ihnen schon im Vorfeld anhand eines Schubladensystems verschlossen habe.
Und dabei will ich mich doch eigentlich immer so vehement einer Gesinnungsgruppe zuordnen, die ach so tolerant daherkommt und niemanden in Kategorien einteilt. Die jedem Menschen die Freiheit einräumt, sich genau so zu entfalten, wie er es für richtig hält. Die die Moralkeule schwingt, wenn das jemand anders sieht. Aber wie soll das authentisch funktionieren, wenn ich schon bei mir selbst damit anfange, zu gruppieren. Scheinbar ist auch Narzissmus eine der Eigenschaften, derer sich zu verschließen nicht ganz so einfach ist.
Letztlich beurteile ich Menschen nach allem, was mir gerade auffällt. Ob sie Popmusik hören, das Nachmittagsprogramm schauen, die CDU wegen ihrer „sympathischen“ Spitzenkandidatin wählen oder Fifty Shades of Grey lesen. Nicht auszumalen – und das meine ich jetzt wirklich nicht ironisch – wie viele Unterhaltungen mit tollen Menschen mir dadurch schon entgangen sind. Die Schönsten führt man doch meist mit denen, die andere Meinungen vertreten als man selbst. Aber das ist wohl das Problem mit uns pseudoliberalen Bloggern und Moralaposteln: Wir sind zu sehr mit den Fehlern anderer beschäftigt als mit unseren eigenen.
Während ich also so sehr damit beschäftigt war, Jana für ihr Schubladendenken moralisch abzustrafen, hatte sie mir bloß eindrucksvoll vor Augen geführt, dass ich selbst nicht besser bin. Zum Glück sind wir damals beide über unseren Schatten gesprungen und haben in unseren Kommoden noch Raum für Nachbesserungen gelassen.