Die Zeit schien stillzustehen, als er sich zum Ausgang umdrehte. Die ohrenbetäubenden Gitarrenriffs aus den Boxen des alternativen Rockschuppens verstummten für einen kurzen und doch unendlichen Moment und wie in Zeitlupe sah er ihr von der Tanzfläche aus nach, wie sie sich ihre Jacke überwarf und den Laden verließ. Nicht ein einziges Mal blickte sie sich dabei um. Nicht einen einzigen Augenblick hatte sie dafür übrig und es war, als versetzte ihm jemand einen mächtigen Schlag in die Magengrube. Einen, von dem man sich nicht so schnell wieder erholt. Nun würde es wieder Monate dauern, bis er sie wiedersah.
Wochenlang schon hatte er sich auf diesen Abend gefreut und längst aufgehört sich zu fragen, ob das eigentlich noch normal ist. Ihre letzte Begegnung war knapp drei Monate her und doch war es ihm vorgekommen, als würde er seit mehreren quälenden Jahren auf ein Wiedersehen warten. Unregelmäßige, tiefgründige WhatsApp-Gespräche reichten einfach nicht aus, um das Bedürfnis nach ihrer Nähe zu stillen. Dabei hätte er nicht einmal genau beschreiben können, was genau diese Anziehung ausmachte. Vielleicht waren es die ausschweifenden Diskussionen über Freundschaft, Liebe und das Leben, die auch nach Stunden nie langweilig wurden. Vielleicht war es die Tatsache, dass sie so unglaublich viel zusammen lachen konnten. Oder vielleicht war es auch einfach die Art, wie sie sich gegenseitig ansahen, wenn sie genau das taten.
Er war nicht unglücklich mit seinem Leben, ganz im Gegenteil. Es existierte keine Lücke, die zu füllen war – keine Freundschaft und keine Romantik, nach der er sich schon ewig sehnte. Und doch gab es dort diese Frau in 800 Kilometern Entfernung, in der er all das fand, was er überhaupt nicht suchte. Diese Frau, die alle paar Monate in sein Leben polterte und ihn sprachlos zurückließ. Die ganz genau wusste, was sie in ihm auslöste, und doch bis in alle Ewigkeit die Verantwortung dafür von sich weisen würde. Die es insgeheim wohl genoss, ständig ein Rätsel zu sein.
Als sie sich an diesem Abend in der retro-hippen Bar zu überteuerten Gin-Longdrinks trafen, wusste er schon nach zwei Minuten, dass es das monatelange Warten wieder einmal wert war. Er war fast 15 Minuten zu früh und ärgerte sich darüber, weil das Rumstehen nicht gerade zum Abbau seiner Nervosität beitrug. 15 Minuten reichten dagegen völlig aus, um sich zweihundertmal zu fragen, warum er denn eigentlich so aufgeregt war. Er hatte immer das Gefühl, als schwebe eine große Frage über seinem Kopf, die er nicht formulieren, geschweige denn beantworten konnte. Doch als sie endlich um die Ecke kam und ihn anstrahlte, als sie ihn erblickte, war alles andere unwichtig. Ohne den kleinsten Umweg tauchten sie ein in ihre ganz eigene Welt, in der niemand anderes etwas verloren hatte.
Stunde um Stunde verging und er erwischte sich immer wieder bei einem enttäuschten Blick auf seine Uhr, die ihm deutlich machte, dass er die Zeit nicht anhalten konnte, so sehr er es sich auch wünschte. Sie philosophierten über die unterschiedlichsten Themen und es verwirrte ihn immer wieder aufs Neue, wie man gleichzeitig so wenig und doch so sehr auf einer Wellenlänge sein kann. Sie diskutierten angeregt und lachten laut, sie füllten diesen einen Abend, den sie hatten, mit allem, wonach sie sich gesehnt hatten. Immer mit der quälenden Gewissheit im Nacken, dass auch dieser Abend enden musste. Und dass sie sich vermutlich wieder nicht von ihm verabschieden würde.
Das hatte sie noch nie getan. Sie versuche, „von Melodramatik Abstand zu halten“. Abschiede seien nichts für sie. Bei jedem Wiedersehen hatte sie ihm am Ende die große Abschiedsszene vorenthalten, bei der er selbst nicht ganz sicher war, was er sich eigentlich von ihr versprach. Er hat irgendwie eine Schwäche für Pathos und dachte wohl jedes Mal ein wenig an Lost in Translation, wenn sich ihre Wege wieder trennten. Bei all den Gedichten und tiefgründigen Zitaten, die ihren Körper als Tätowierungen zierten, wollte er auch einfach nicht wahrhaben, dass es ihr anders ging. Diese unbegreifliche Verbindung zwischen ihnen hatte einfach mehr verdient als einen stillen Abgang. Und doch verschwand sie jedes Mal ohne ein Wort zu sagen und ließ ihn mit dieser großen Frage zurück, die wohl für immer unbeantwortet bleiben wird.
Als sie nach sieben Stunden und zahlreichen Cocktails in der heruntergekommenen Rockdisco ankamen, in der Freunde, Bekannte und Freunde von Bekannten schon seit Stunden auf sie warteten, hatten sie längst viel mehr Zeit miteinander verbracht, als sie für möglich gehalten hätten. Und wohl auch mehr, als sie hätten vertreten können. Aber das spielte keine Rolle. Sie strahlten sich bloß gegenseitig an, als sie den Schuppen betraten. In dieser Umgebung fällt niemand ein Urteil, schaut dich niemand schief an. Hier wollten alle dasselbe – einfach nur Spaß haben.
Sie musste sich zu ihm herüberbeugen, um gegen die Foo Fighters anzukommen: „In meiner Heimat gibt’s einen Laden, der ist noch alternativer und noch cooler – du würdest ihn lieben!“ Er lächelte. „Ich würde dich unglaublich gerne mal dahin mitnehmen. Aber leider wird das wohl nie passieren…“ Ihm war klar, dass sie damit vollkommen Recht hatte. Es bestand zweifellos nicht einmal die theoretische Option darauf. Dennoch vermochte dieser Gedanke sein Lächeln nicht gänzlich zu trüben. Ihr Bedürfnis nämlich, ihm das dennoch mitzuteilen, gab ihm schon so viel. Auch, wenn es ihn wehmütig stimmte. „Tust du mir einen Gefallen?“, fragte er sie fast eindringlicher als angebracht. „Kannst du dieses eine Mal bitte nicht einfach wortlos verschwinden?“ Ihr Lächeln war ihm schon beinahe Antwort genug. „Versprochen.“
Der Laden gehörte nur ihnen, sie genossen jede einzelne Sekunde des Abends. Dieses einen Abends, der wieder für so viele Monate entschädigen musste. Zu dröhnenden E-Gitarren-Sounds schlossen sie die Augen und tanzten die ganze Nacht in einer Welt, in der nichts eine Bedeutung hatte – kein Alltag, keine Probleme, keine anderen Menschen. Sie bekamen genau diese unerklärlichen Momente, die sie sich aus noch unerklärlicheren Gründen herbeigesehnt hatten. In denen sie Brüderschaft trinken und über Insiderwitze lachen konnten. In denen sie sich stundenlang unterhalten konnten, ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen. Momente, in denen Freundschaft und Anziehung, Gewissheit und Rätsel zu einer unbeschreiblichen Atmosphäre verschmolzen.
Und als sie um fünf Uhr früh plötzlich die Tanzfläche verließ, wusste er sofort, dass sie genau jetzt enden würden. Abrupt und gnadenlos. Er war wie versteinert. Wieder ging sie, ohne ein einziges Wort zu sagen. Wieder brach es ihm das Herz. Und wieder wusste er nicht, warum.