„Wollen wir nicht einfach hier bleiben? Ich hab grad irgendwie keine Lust, bei der Hitze noch rauszugehen“, lässt du so spontan wie möglich fallen, noch bevor ich deine Wohnung richtig betreten habe. Du hast noch eine Jogginghose an, weil du sagen willst, dass du auf Oberflächlichkeiten pfeifst. Trotzdem hast du Socken und T-Shirt farblich passend dazu ausgewählt, alles in dezenten Schwarz-, Weiß- und Grautönen. Deine Haare, die jetzt nicht mehr blond, sondern umwerfend kastanienbraun sind, hast du zu einem perfekten Pferdeschwanz zusammengebunden. Augenbrauen, Wimpern, Lippen – alles von natürlicher Perfektion. Aber so analytisch nehme ich das alles gar nicht war. Ich bin einzig überwältigt, wie schön du bist.
Du nimmst das Mineralwasser, das zufällig schon mit Zitronenscheiben in einer hohen Karaffe vorbereitet ist, und führst mich ins helle Wohnzimmer. Die dutzenden unberührten Kerzen auf den Tischen können die mädchenhafte Seite an dir, die du gern so akribisch zu leugnen versuchst, nun endgültig nicht mehr verbergen. Tom Hardy hält in einem weißen Bilderrahmen mit langem Bart das Hipsterfähnlein hoch. Sein Autogramm sieht aus wie ein Penis.
Ich mag es, wie du mich in den ersten Minuten unserer seltenen Begegnungen ansiehst: eine Mischung aus verlegen zu Boden schauen und möglichst abgeklärt lächeln. Die Art, die ich dir wohl genauso spiegle, weil sich auch bei mir jedes Mal Vorfreude und Nervosität zu einer undefinierbaren Gefühlsregung vermischen. Und jedes Mal aufs Neue frage ich mich, was da zwischen uns ist.
Wenn du erzählst, spielst du verträumt mit den Haaren, blickst ausweichend in die Ferne, schenkst mir dein schmales Lächeln. Wir sind schnell vom gediegenen Smalltalk zu den wichtigen Themen des Lebens übergegangen, philosophieren und analysieren, lachen und sinnieren. Da ist so viel, über das wir uns austauschen müssen, zu dem wir die Meinung des anderen hören wollen. Die Unterhaltungen mit dir sind wahrhaftig und echt, keine Oberflächlichkeiten, keine Floskeln, keine Sprüche. Je länger wir uns unterhalten, desto länger blickst du mir in die Augen. Und du gibst mir dabei so gar kein unangenehmes Gefühl. Du starrst mich nicht an oder durch mich hindurch, du flirtest nicht, urteilst nicht. Du nimmst mich so ernst, wie man einen Menschen nur nehmen kann, und ich dich genauso. Ohne mich zu berühren, bist du mir so nah, wie man einem Menschen nur sein kann. Einmal glaube ich, du bist versucht es zu tun, weil ich es auch bin. Doch wir sitzen nur da, haben uns ohnehin nie viel berührt, müssen es auch nicht tun. Nur an diesem einen Abend, an den du angeblich kaum noch Erinnerungen hast. An dem wir zu Indie Rock getanzt und mit Jägermeister Brüderschaft getrunken haben. Nur an diesem Abend, dessen Erinnerungen bei mir so klar sind, wie du es von dir selbst nicht zugibst, hast du mich berührt. Mich geküsst. Und dich später nicht verabschiedet.
Aber heute wirst du dich verabschieden, und das erst einmal wieder für lange Zeit. Der Gedanke stresst mich. Was zum Teufel ist das, was mir dann wieder für Tage und Wochen den Boden unter den Füßen wegreißt, mir erst grenzenlose Vorfreude beschert und mich dann unerfüllt zurücklässt? Es ist kein Verliebtsein, auch wenn wir uns vielleicht danach sehnen. Wir haben uns aber nie nach uns, sondern immer nach anderen gesehnt. Und sind dann im gemeinsamen Selbstmitleid zu einer melancholischen Masse verschmolzen. Es ist auch keine Freundschaft, auch wenn uns diese immer sehr intensiv zugrunde liegt. Es ist eine ruhige Melodie und ein Feuerwerk zugleich, Gleichmut und Spektakel. Es ist alles und es ist nichts, aber davon ganz viel.
Zwei Stunden sind schnell um, viel zu schnell! Selbst die längste Umarmung kann nicht wettmachen, was uns heute wieder alles entgeht. Nie gelingt es, alles in diese kurzen Zeitfenster zu pressen. Doch würden wir täglich in derselben Umlaufbahn kreisen, wäre die Reibung wohl schnell zu groß. Denn so nah wir uns sind, so unterschiedlich sind wir auch. Als Idealisten auf unterschiedlichen Pfaden würden wir uns ständig anstacheln und triezen, uns wahrscheinlich irgendwann zerfleischen. Nur so, wie es ist, ist es gut. Auch, wenn es furchtbar ist.
Mit dieser selten aufflackernden Wehmut in deinen Augen hebst du die Melancholie aufs höchste Level. Jahrelang lässt du mich brüten, was du für mich bist; lässt mich grübeln und immer wieder daran verzweifeln. Doch seit heute weiß ich, dass du genau das für mich sein sollst. Du bist der Mensch, der mich beschäftigt. Der mich aufwühlt, mich fordert, mich quält. Der Mensch, der mich inspiriert. Du bist meine Muse. Ob du es weißt oder nicht, ob du es willst oder nicht. Und dafür liebe ich dich.