Langsam und ohne den Fahrer beim Hochhalten seiner Fahrkarte anzusehen steigt er in den Bus und trottet bis nach hinten durch. Neun Jahre lang hat er mindestens zweimal am Tag hier hinten gesessen und auf die triste Strecke in die nächste Stadt hinausgesehen. Er ist dabei nie voller Vorfreude gewesen, aber die Schule ist nun seit einem Monat vorbei und in den letzten Wochen saß er aus einem ganz anderen Grund in diesem Bus. Und während in dieser Zeit tatsächlich die Vorfreude die leisen Zweifel und die Ungewissheit überwog, hat sich dieses Verhältnis vor ein paar Stunden wieder völlig umgekehrt. Mit so einem unguten Gefühl ist er noch nie in diesen Bus gestiegen.
„Vielleicht sollten wir uns nachher mal treffen“, hatte sie geschrieben. Er wünschte sich nichts mehr als das aber er wusste sofort, dass sie etwas anderes meinte. Sie brauchte gar keine abgedroschene Floskel wie „Wir sollten reden“. Allein, dass sie den Schlosspark – einen neutralen Ort – vorschlug, sprach für sich. Es war vollkommen klar, dass ihn kein Treffen erwartet, wie er es sich wünschen würde. Doch diesen Gedanken verdrängt er und klammert sich an Erinnerungen, die ihm etwas anderes versprechen.
Für die letzte Abiklausur hatten sie sich intensiv zusammen vorbereitet, hatten stundenlang über den Büchern gebrütet und beide beim jeweils anderen den Grundstein für die guten Noten gelegt. Die finale Schicht endete weit nach Mitternacht, sie lagen zusammen mit unzähligen Geschichtsbüchern auf ihrem Bett. „Der letzte Bus fährt gleich“, sagte er etwas enttäuscht mit Blick auf sein Handy. „Den verpasst du dann wohl“, entgegnete sie und knipste das Licht aus.
Diese Nacht hatte etwas zu bedeuten, das muss sie einfach! Für ein kurzes Abenteuer haben sie viel zu viele Abende gemeinsam verbracht. Hatten, obwohl sie jeweils schon anderen Begleitern zugesagt hatten, im Prinzip den gesamten Abschlussball zusammen verbracht – die alles abschließende Endzeitparty. Auch an diesem Abend konnte er die Augen nicht von ihr lassen. Sie sahen gut zusammen aus – sie im pinken Kleid, er im schwarzen Anzug. Auch dieser Abend hatte etwas zu bedeuten, das muss er einfach!
Aber das unangenehme Ziehen in seiner Magengegend hat schon wieder eingesetzt noch bevor der Bus abfährt. Das Geräusch des röhrenden Motors kommt ihm fast fremd vor, weil es heute nicht von Musik übertönt wird. Er ist nicht fähig, die Kopfhörer aufzusetzen oder überhaupt daran zu denken. Er versucht mit aller Kraft, gegen das Ziehen anzukämpfen, und malt sich aus, was er sich so sehnlich wünscht. Keinen Gedanken kann er verschwenden an das, was den beiden im Weg steht. Das nahende Studium, der Umzug, die vielen hundert Kilometer, die bald zwischen ihnen liegen werden. Der Ex, der ständig in ihrem Umfeld herumzuschwirren scheint und um eine zweite Chance bettelt.
Die Haltestellendurchsagen kann er mitsprechen und nach jedem Stopp geht er alle Haltestellen durch, die noch folgen, bis er „Am Schlosspark“ aussteigen muss. Oder will. Mittlerweile ist er sich da nicht mehr so sicher. Selbst nach einem Zehn-Stunden-Tag ist ihm diese Fahrt nie so lang vorgekommen.
Als er aussteigt, sieht er sie schon von weitem. Sie ist bildschön wie immer, aber etwas fehlt. Zur Begrüßung umarmt sie ihn ohne ein Lächeln. Ihr ausdrucksloses, beinahe mitleidiges Gesicht verstärkt das Ziehen in seinem Bauch, es fühlt sich jetzt an wie ein Messerstich. Aber die bloße Freude, sie zu sehen, macht es erträglich. Bereitwillig steigt er auf ihren hilflosen Versuch ein, Smalltalk zu führen, als sie ihn nach seinem letzten Wochenende fragt und sich mit ihm auf eine Bank setzt. Alles, was ihn von dem fernhält, was ihn gleich unausweichlich erwartet, nimmt er dankend an. Nur noch einen Moment so tun, als würden sie immer noch auf das zusteuern, was er sich nach der unvergesslichen Nacht so sehr gewünscht hat. Nur noch einen Moment so tun, als würde sie ihn gleich nicht in die Wüste schicken.
Bis er es selbst nicht mehr aushält. Warum über Belangloses reden, wenn so viel in der Luft liegt? Er hat Angst vor dem, was gleich folgen wird, aber dass ihr dieselbe Angst ins Gesicht geschrieben ist, lässt noch einen Funken Hoffnung in ihm weiterleben. Es muss ihr nur schwer genug fallen, dann überlegt sie es sich vielleicht noch einmal anders. „Du wolltest reden“, sagt er mit ernster Stimme und sie schafft es nicht, ihm in die Augen zu sehen.
Es kommt, was er erwartet hat. Sie habe die gemeinsamen Stunden genossen, wolle eigentlich mehr aber könne nicht. Er hat keine Ahnung, ob sie ihn anlügt oder nicht, aber er erträgt es mit Fassung. Seine Gesichtszüge sind starr, er nimmt alles hin, lässt zum ersten Mal den Gedanken zu, dass sie ihm nur etwas vorgespielt haben könnte. Bis er ihre Tränen sieht.
„Ich will einfach einen Freund, der da ist“, schluchzt sie und kann nicht aufhören zu weinen. Er glaubt ihr. Sein kalter Gesichtsausdruck entspannt sich und er nimmt sie in den Arm. Er hatte sich vorgenommen, das nicht zu tun. Sich das letzte bisschen Würde zu erhalten aber er glaubt ihr. Er akzeptiert, dass es hier endet. Und er weiß, dass diese Umarmung das Letzte ist, was er kriegen wird.
Sie liegt noch eine ganze Weile weinend in seinen Armen, bis er sich entschließt, diesen Bus nicht zu verpassen. Es ist verflucht schwer, aufzustehen, wenn ein Abschied für immer bevorsteht. Als sie im Stehen immer noch die Arme um seinen Hals gelegt hat, muss auch er gegen die Tränen ankämpfen. Sie stehen nur da und umarmen sich.
Er will sich von ihr verabschieden, bekommt aber kein Wort heraus. Sie sehen sich lange in die Augen und er gibt sich alle Mühe, es zu ertragen. „Mach’s gut“, kriegt er gerade so raus. Tränenüberströmt nimmt sie sein Gesicht in beide Hände und küsst ihn ein letztes Mal. Sie küssen sich so lange, bis sie es nicht mehr ertragen. Ohne ein Wort zu sagen wendet er sich ab und steigt in den Bus.
Aus dem Fenster sieht er sie langsam weggehen. Er setzt die Kopfhörer auf und wählt den traurigsten Song aus, der ihm einfällt. Jetzt ist er dazu in der Lage, es gibt nichts mehr, worüber er sich den Kopf zerbrechen kann. Jetzt will er nur noch den Schmerz fühlen – hart und ungefiltert. Als der Song einsetzt, kapituliert er vor den Tränen.
Wenige Tage später wird sie kommentarlos ein Foto auf ihrer Facebookseite hochladen: Sie im pinken Kleid, er im schwarzen Anzug. Sie sehen gut zusammen aus.