Während die letzten rötlichen Sonnenstrahlen zwischen den hohen Altbauten hindurch blitzten, genoss er es, das Fahrrad genommen zu haben. Es ist immer wahnsinnig umständlich, mit der Bahn nach Winterhude zu gelangen aber so ein milder Frühlingsabend lässt sich ohnehin am besten auf dem Sattel auskosten. Als er seine rostige Gazelle am Stadtpark entlang steuerte, dessen hohe Bäume bereits zaghaft die Fülle und das Grün andeuteten, die sie im Hochsommer aufbieten würden, konnte er für einen kurzen Augenblick die Verunsicherung vergessen, die ihn seit dem Aufstehen begleitet hatte. Dass er auf dieser Party vermutlich niemanden kennen würde, war ihm beinahe egal. Was ihn aus der Ruhe brachte, und das nicht erst seit heute morgen, war die eine Person, die er dort definitiv kennen würde. Und das auch, weil er zugleich das Gefühl hatte, sie ganz und gar nicht zu kennen.
Als er nach einem kurzen Stück Kopfsteinpflaster in die ruhige Nebenstraße einbog, hatte er für einen Moment das Gefühl, gar nicht mehr in Hamburg zu sein. Die großen, rot geklinkerten Mehrparteienhäuser mit ihren kleinen Treppenaufgängen und länglichen Fenstern erinnerten ihn schlagartig an die ganzen amerikanischen Sitcoms, deren Hauptfiguren scheinbar alle in den hippen Nebenstraßen Manhattans lebten. Wer auch immer die Gastgeberin dieser Party sein mochte, sie schüchterte ihn jetzt schon ein. Vor dem Haus mit der Nummer 18 standen zwei Männer, die sich so ähnlich sahen, dass sie sich unmöglich erst an diesem Abend kennen gelernt haben konnten. Beide trugen Chinos mit Hosenträgern, weiße Hemden und Vollbart. In der Hand hielten sie jeder ein fast volles Longdrinkglas. In diesem Haus schien die Party zu sein. „Du siehst es schon, wenn du in die Straße fährst“, hatte Lena nur gesagt. Als wäre es nicht weiter von Belang, ob er es fand oder nicht. Aber so wollte er es nicht verstehen. Er fand es irgendwie cool, einfach zu einer fremden Party zu fahren, ohne genau zu wissen, was ihn dort erwartete. Nicht zuletzt, weil sie ihn eingeladen hatte.
Er bemerkte sofort ihr cremefarbenes Hollandrad, das an der Hauswand lehnte, und war heilfroh, dass er nicht vor ihr aufgekreuzt war. Er hatte sich tausendmal umentschieden, ob er bei einer Einladung „ab 18 Uhr“ um 20 Uhr nicht immer noch viel zu früh sein würde. Ohnehin hinterfragte er jeden seiner Schritte ihr gegenüber bis zum Erbrechen. Und doch wirkte sie immer irgendwie skeptisch, was er auch tat.
Die weiträumige Loftwohnung hielt, was die Straße versprach. Das große Wohnzimmer zierte derselbe Klinker wie an der Außenwand und die fünf beinahe bodentiefen Fenster erzeugten ein für die Party fast schon zu helles Ambiente. Lena stand an einem Tresen mit drei auffallend stilvoll gekleideten Männern, deren ungeteilter Aufmerksamkeit sie sich absolut sicher sein konnte, ohne selbst ein Wort zu sprechen. Die drei schienen sich mit ihren Geschichten mit allem, was sie hatten, überbieten zu wollen und wirkten wie hilflose kleine Welpen, als Lena sie mit einem Lächeln in Richtung Gäste-WC verließ. Sie kam direkt auf ihn zu, während er sich hastig bemühte, an der Gin-Bar möglichst beschäftigt auszusehen. „Hey Stefan, cool, dass du gekommen bist“, warf sie ihm im Vorbeigehen zu und strich bloß flüchtig mit der Hand über seinen Rücken. Keine Umarmung, keine Einladung, sich mit an den Tisch zu stellen. Als wäre sein Kommen bloß eine Randnotiz gewesen. Kein Beleg ihres innigen Verhältnisses und vor allem kein Wort zur letzten Nacht, die ihm so viel bedeutete.
Um fünf Uhr früh waren sie das erste Mal eingeschlafen – vollkommen verschwitzt und ausgelaugt. Es war nicht ihre erste gemeinsame Nacht aber dieses Mal hatte er das Gefühl, als sei es vertrauter gewesen. Nicht einfach bloß Sex, sondern Gefühle. Erwiderte Gefühle. Wochenlang hatte er ihre sprunghaften Kapriolen mitgemacht. Hatte sich versetzen lassen, war ihr nachgelaufen, hatte sich rar gemacht. Und war dabei selbst kaum in der Lage gewesen, dieses Auf und Ab zu ertragen. Aber in dieser Nacht glaubte er eine Veränderung gespürt zu haben. Als hätte sie endlich begriffen, was er für sie sein konnte und wollte. Als er jedoch gegen 11 Uhr aufwachte, war Lena schon nicht mehr da. Sie hatte sich abermals wortlos raus geschlichen. Ein bezeichnendes Detail, das er wieder einmal energisch verdrängte.
„Schläfst du mit Lena?“, fragte plötzlich eine Stimme von der Seite. Er hatte überhaupt nicht bemerkt, wie einer der beiden Hipster von draußen mit seinem Glas zu ihm an den Bartisch gekommen war. „Was? Wie kommt du darauf?“, antwortete Stefan sichtlich überfordert. „Naja, du siehst irgendwie verzweifelt aus.“ Und da war er: der Beweis, dass ihm trotz aller Bemühungen die Hilflosigkeit auf die Stirn geschrieben stand. Dabei wollte er doch ganz lässig und cool daherkommen, hatte sich sich alles haargenau zurechtgelegt. Sein Outfit, sein Auftreten, den Humor. Alle sollten sehen, dass sie sich glücklich schätzen konnte. Und ihr das am besten auch gleich sagen. Aber das war ganz offensichtlich Wunschdenken. Er rannte ihr hinterher und alle konnten es sehen. Beunruhigender war nur die aufkeimende Erkenntnis, offenbar nicht der einzige Darsteller in Lenas Theaterstück zu sein. Und jeder in ihrem Umfeld schien dieses Stück zu kennen.
„Du etwa auch?“, fragte Stefan und war selbst überrascht von seinem Mut. Er wollte die Antwort zwar ums Verrecken nicht wissen aber ihm war auch klar, dass ihn Verdrängung langsam nicht mehr weiter brachte. Der Hipster grinste nur. „Nein, aber ich wär auch dein kleinstes Problem“, sagte er und nickte dabei in Richtung der drei aufgestylten Typen am Stehtisch. „Vergiss sie. Die Frau kostet dich bloß den Verstand und letzten Endes dein Rückgrat. Glaub mir, da kannst du hier eine Menge Leute fragen.“
Er hätte gedacht, dass ihn diese Antwort härter treffen würde aber irgendwie schien ihn sein Unterbewusstsein schon seit Wochen auf so einen Moment vorbereitet zu haben. Es fühlte sich immer noch wie ein übler Tiefschlag an aber er wusste, dass er sich davon erholen würde. Und das wurde ihm zum Glück klar noch bevor sie von der Toilette wiederkam. Denn der Entschluss, keine Minute länger auf dieser Party zu bleiben, war einer von der Sorte, die man besser noch im selben Moment in die Tat umsetzt.
Er ging, so glaubte er zumindest sich zu fühlen, erhobenen Hauptes. Und hörte wieder eine Woche lang nichts von ihr. Dann kam eine SMS: „Hey, wollen wir uns morgen sehen?“